Es war keine Entweder-oder-Entscheidung
Ein Beispiel aus dem Alltag und was es über unser Denken verrät
Ich fahre mit der erlaubten innerörtlichen Geschwindigkeit auf einer Hauptstraße. Etwa 50 Meter vor mir fährt ein Junge, vielleicht elf Jahre alt, auf einem Fahrrad aus einer linken Nebenstraße. Ohne Helm. Ich kann nicht erkennen, ob er mich bemerkt hat. Ich habe Vorfahrt. Aber was zählt das jetzt?
In dieser Sekunde zählt nicht mein Recht, sondern mein Denken. Nicht, was ich dürfte, sondern, was ich tue.
Ich bremse. Gleichzeitig halte ich Blickkontakt mit dem Kind. Ich will sehen, ob er reagiert – und wohin ich eventuell ausweichen könnte, falls mein Bremsweg zu lang ist. Der Junge schaut mich an. Er bleibt mitten auf der Straße stehen, aber so, dass ich sicher vorbeifahren kann. Zum Glück kommt kein Auto aus der Gegenrichtung. Ich fahre langsam weiter. Der Junge bleibt unverletzt. Alles geht gut aus.
Aber in mir bleibt etwas zurück – ein Nachdenken. Nicht über Verkehrsregeln, sondern über Entscheidungen.
Komplexität ist kein Luxus – sie ist Alltag
Die Situation war in ihrer äußeren Gestalt einfach – zwei Verkehrsteilnehmer, eine klare Vorfahrtsregel, ein mögliches Risiko. Aber innerlich war sie hochkomplex:
- Ich wusste nicht, ob er mich gesehen hatte.
- Ich wusste nicht, ob er seine Geschwindigkeit ändert, ob er ausweichen oder stehenbleiben würde, ob er überhaupt wusste, was gerade geschieht.
- Ich achtete im ersten Moment fast ausschließlich auf ihn – auf seine Haltung, seine Blickrichtung, sein Tempo. Den Gegenverkehr nahm ich erst einen Moment später wahr. Ich stellte dann erleichtert fest, dass von vorn kein Auto kam.
Trotzdem konnte ich innerhalb von Sekunden reagieren – nicht panisch, sondern achtsam. Nicht entweder-oder, sondern mehrdimensional.
Und ich bin überzeugt: So handeln sehr viele Menschen. Nicht aus blinder Routine, sondern aus wachsender Erfahrung, innerer Bereitschaft und einem sozialen Empfinden für das, was jetzt zählt.
Ich habe nichts Außergewöhnliches getan – nur das, was viele andere in ähnlicher Situation wohl ebenfalls getan hätten: achtsam handeln.
Warum das „Entweder-oder“ oft nicht reicht
Das klassische Denken in Gegensätzen – „Recht oder Unrecht“, „Handeln oder Abwarten“, „Ich oder der Andere“ – funktioniert in juristischen Texten, in Debattensendungen oder in Formulareingaben. Aber das Leben ist kein Formular. Es ist dynamisch. Und es belohnt nicht das starre Rechthaben, sondern die Fähigkeit, in Bewegung zu bleiben – im Denken wie im Handeln.
„Entweder-oder“ ist verlockend, weil es einfach klingt. Aber es wird der Tiefe des Lebens nicht gerecht. Und oft ist es sogar schwieriger, sich auf nur eine Option festzulegen, als eine weitsichtige Entscheidung aus mehreren Einflussfaktoren heraus zu treffen.
Komplexität lässt sich lernen – durch Achtsamkeit und Erfahrung
Die gute Nachricht: Komplexes Denken ist keine Gabe weniger. Es ist erlernbar.
Es wächst mit jedem Moment, in dem wir nicht sofort urteilen. Es reift in jeder Situation, in der wir innehalten, bevor wir reagieren. Es stärkt sich durch Erfahrungen, durch Gespräche, durch Beobachtung, durch selbstkritische Rückblicke.
Und es braucht etwas, das ich für besonders wichtig halte: ein gesundes soziales Empfinden. Wer sich innerlich mit anderen verbunden fühlt, wird eher bereit sein, achtsam und umsichtig zu handeln – nicht aus Angst vor Fehlern, sondern aus Respekt vor dem Leben.
Wirklichkeitskonstruktion in Aktion
In der beschriebenen Situation habe ich nicht „die Realität“ erfasst, sondern eine Interpretation erstellt, mit der ich handlungsfähig wurde. Ich konnte nicht wissen, was der Junge tun würde – aber ich konnte Wahrscheinlichkeiten abwägen. Ich konnte mein Denken auf das ausrichten, was möglich ist, nicht auf das, was feststeht. Genau darin liegt die Stärke des konstruktiven Denkens.
Wirklichkeitskonstruktion ist nicht theoretisch. Sie passiert in jeder Sekunde. Und wer gelernt hat, bewusst mit ihr umzugehen, dem eröffnen sich neue Handlungsspielräume – gerade dann, wenn die Zeit knapp ist.
Fazit: Die Welt ist nicht schwarz und weiß – und das ist gut so
Ich schreibe diesen Text nicht, um zu zeigen, dass ich etwas besonders richtig gemacht habe. Ich schreibe ihn, weil ich glaube, dass viele Menschen zu genau dieser Form von Denken und Handeln fähig sind. Und weil ich überzeugt bin, dass wir diese Fähigkeit stärken können – individuell und gesellschaftlich.
Komplexität muss nicht lähmen. Sie kann tragen. Wer sie annimmt, entdeckt Handlungsspielräume, wo vorher nur Regeln standen. Und wer bereit ist, sich immer wieder mit seiner eigenen Wirklichkeitskonstruktion auseinanderzusetzen, wird freier – nicht nur im Straßenverkehr, sondern im Leben.
Trackbacks/Pingbacks