Ein persönlicher Zugang zu einem oft übersehenen Zusammenhang

Wenn wir über Konstruktivismus sprechen, denken viele zuerst an Erkenntnistheorie oder Kommunikationstheorien. An Paul Watzlawick, an die Idee, dass es keine objektive Wirklichkeit gibt, sondern nur individuelle Konstruktionen davon. Mich hat dieser Gedanke in einer Umbruchsphase tief berührt, weil er mir eine Sprache für etwas gab, das ich lange schon gespürt hatte: Dass zwei Menschen ein und dieselbe Situation völlig unterschiedlich erleben können – und dass beide auf ihre Weise recht haben.

Aber erst in den letzten Jahren ist mir klar geworden, wie stark auch unsere Gefühle Teil dieser Konstruktionen sind. Und dass emotionale Reife bedeutet, sich dieser Zusammenhänge bewusst zu werden – also nicht nur zu fühlen, sondern sich im Fühlen selbst zu erkennen.

Der Konstruktivismus ist für mich seitdem mehr als ein Denkmodell. Er ist ein Werkzeug, das mir hilft, mich selbst besser zu verstehen und damit auch selbstbestimmter zu leben.

Gefühle als Teil meiner Wirklichkeitskonstruktion

Emotionen sind nicht bloß spontane Reaktionen auf äußere Reize. Sie entstehen aus unserer inneren Bewertung von Situationen – aus unseren Erwartungen, unseren Erfahrungen, unserem Selbstbild.

Wenn mir also Tränen kommen in Momenten, die objektiv wenig rührend wirken, dann ist das kein „Fehler“ oder Kontrollverlust. Es ist Ausdruck meiner ganz eigenen Wirklichkeitskonstruktion.

Ich bin ein emotionaler Mensch. Das war schon immer so. Und ich hatte lange das Gefühl, dass ich daran „arbeiten“ müsse. Mein Wunsch war, ruhig zu bleiben, mich nicht zu sehr mitreißen zu lassen. Aber ich musste einsehen: Es geht nicht darum, Gefühle abzuschalten – sondern darum, sie zu verstehen.

Wenn ich heute spüre, dass mich eine Situation emotional überfordert oder berührt, frage ich mich:
Was genau spricht mich da an?
Was sehe ich in der Situation, das mit mir selbst zu tun hat?
Welche Geschichte erzähle ich mir in diesem Moment?

Diese Fragen eröffnen mir die Möglichkeit, nicht in automatischen Mustern gefangen zu bleiben – sondern freier, also selbstbestimmter, zu reagieren.

Emotionale Reife als Voraussetzung für Selbstbestimmung

In Gesprächen über Selbstbestimmung wird oft über äußere Faktoren gesprochen: finanzielle Freiheit, politische Rechte, berufliche Unabhängigkeit. Das alles ist wichtig. Aber es greift zu kurz.

Wirkliche Selbstbestimmung beginnt innen. Sie beginnt da, wo ich mich selbst erkenne – mit meinen Gefühlen, Bewertungen, Prägungen. Und sie setzt voraus, dass ich meine Emotionen nicht verdränge oder blind auslebe, sondern in Beziehung zu mir selbst bringe.

Maren Urner bringt es treffend auf den Punkt:

„Es geht um die versteckten emotionalen Grundlagen unserer Entscheidungen. Sich das klarzumachen, zeugt von emotionaler Reife.“

Ohne diese emotionale Klarheit wirken viele Entscheidungen nur scheinbar frei. In Wahrheit wiederholen wir dann oft unbewusst alte Muster – angepasst, trotzig, überkompensierend oder konfliktscheu. Was wie Autonomie aussieht, ist dann oft nur Reaktion.

Ein Beispiel aus meinem Leben

Ich erinnere mich an eine Begegnung mit einem Menschen, der sehr vehement für maoistische Positionen eintrat. Was mich damals irritierte, war nicht die Meinung selbst – sondern die Art, wie er sie vertreten hat: autoritär, emotional aufgeladen, manchmal übergriffig.

Heute sehe ich: Hinter diesem Auftreten lag vermutlich ein tiefes Bedürfnis – nach Bedeutung, nach Zugehörigkeit, vielleicht nach Wertschätzung. Seine Ideologie war in meinen Augen weniger ein frei gewählter Standpunkt, sondern eher ein Mittel, um gesehen zu werden.

Ich erkenne darin etwas wieder, das auch in mir angelegt ist. Auch ich habe in meinem Leben Positionen vertreten, die weniger Ausdruck meiner Freiheit waren, sondern Reaktion auf ein inneres Ungleichgewicht. Das zu sehen tut weh – aber es macht auch freier.

Selbstbestimmung beginnt mit innerer Ehrlichkeit

Emotionale Reife ist kein Zustand, den man einmal erreicht. Sie ist ein Prozess, der mit der Bereitschaft beginnt, sich selbst ehrlich zu beobachten. Nicht um perfekt zu werden – sondern um freier entscheiden zu können.

Und genau hier liegt die Verbindung zum Konstruktivismus: Wenn ich anerkenne, dass ich meine Wirklichkeit mitgestalte, dann liegt darin eine Verantwortung – aber auch eine Chance. Ich bin nicht Opfer meiner Gefühle, sondern kann lernen, mit ihnen bewusst umzugehen.

Eine persönliche Reflexion

Wenn ich heute über Selbstbestimmung schreibe, dann meine ich damit nicht Souveränität im äußeren Auftritt oder die Fähigkeit, sich durchzusetzen. Sondern ich meine die stille Kraft, sich selbst zu verstehen – und aus dieser Klarheit heraus zu handeln.

Ich bin noch nicht da. Aber ich bin auf dem Weg. Und die Denkhaltung des Konstruktivismus hilft mir dabei, mich selbst nicht als fertiges Produkt zu sehen, sondern als etwas, das sich entwickeln darf.

Vielleicht ist das der wichtigste Gedanke:
Selbstbestimmung ist keine Stärke, die man hat – sie ist eine Haltung, die man einübt.