Selbsterkenntnis ist mehr als ein innerer Prozess. Sie verändert die Art, wie wir die Welt sehen – und damit auch die Welt selbst. Der Gedanke aus einem alten konfuzianischen Text klingt überraschend modern: Wir gestalten Wirklichkeit, indem wir uns selbst verstehen.
„Wer sein Wesen durchdringen kann, kann das Wesen der Menschen durchdringen – und dadurch seine Wirklichkeit schöpferisch gestalten.“
Dieser Satz stammt aus dem alten Buch der Riten, Sitten und Gebräuche, einem der klassischen Texte des Konfuzianismus. Er trägt eine Weisheit in sich, die über Jahrtausende hinweg nichts an Bedeutung verloren hat.
In seiner Tiefe steckt die Erkenntnis, dass Selbsterkenntnis der Schlüssel zum Verstehen anderer ist. Wer sich selbst nicht kennt – seine Motive, Ängste, Urteile, Empfindlichkeiten –, begegnet der Welt durch den Schleier seiner Unbewusstheit. Das, was er wahrnimmt, ist weniger die Welt, wie sie ist, sondern ein Spiegel seiner eigenen Konstruktionen. Erst wenn wir beginnen, uns selbst zu durchdringen, wird dieser Schleier dünner. Dann erkennen wir, dass auch andere Menschen ihre Welt aus ihren Erfahrungen, Hoffnungen und Verletzungen heraus formen – so wie wir selbst.
Das Zitat beschreibt damit etwas, das die moderne Erkenntnistheorie erst viel später benannte: Wir bauen unsere Wirklichkeit selbst. Wir sehen nicht „die Dinge an sich“, sondern das, was unsere Wahrnehmung aus ihnen macht. Doch das ist kein Mangel, sondern eine schöpferische Möglichkeit. Indem wir unser Wesen verstehen, lernen wir, unsere Wirklichkeit bewusster zu gestalten – mit mehr Achtsamkeit, Mitgefühl und Klarheit.
Die Aufforderung, das eigene Wesen zu durchdringen, ist also keine Einladung zur Selbstbezogenheit, sondern zur Verantwortung: Wer sich selbst versteht, kann gerechter handeln. Wer die Beweggründe anderer durchschaut, wird milder im Urteil. So entsteht eine Form der Weltgestaltung, die auf Verständnis statt auf Kontrolle beruht.
Selbsterkenntnis ist der Beginn jeder schöpferischen Wirklichkeit. Denn erst wer sich selbst erkennt, erkennt auch die Menschlichkeit im Anderen – und beginnt, eine Welt zu gestalten, in der beides Platz hat.
Wie verändert sich dein Blick auf andere Menschen, wenn du erkennst, dass auch sie ihre Wirklichkeit erschaffen – genau wie du?
Anmerkungen
- Selbsterkenntnis beginnt mit Fragen – aber nicht mit „Warum“. Diese Frage zerpflückt, statt zu klären. Besser sind Fragen, die dich dir selbst annähern. Auf der anderen Seite steht natürlich ein „Warum“: Warum bemühst du dich um Selbsterkenntnis. Diese Frage will geklärt sein.
- Beim PAL-Verlag stellt Dr. Doris Wolf einen Artikel mit 101 Fragen zur Selbsterkenntnis bereits. Diese Fragen können dir helfen, dir selbst auf die Spur zu kommen: Wer bin ich? 101 Fragen zur Selbsterkenntnis.
- Wer gerne etwas tiefer forschen möchte, findet hier den geeigneten Einstieg: Erkenne dich selbst! – Werde, der du bist!. Der Text geht auf die philosophischen Grundlagen ein, die vielen meiner Artikel zugrunde liegen.
- Die Philosophie betrachtet die Welt schon seit langem als Konstrukt unseres Geistes. Deshalb auch hier noch einmal der Verweis auf meinen Artikel: Was ist Konstruktivismus.
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