Wir entscheiden täglich – oft, ohne es zu bemerken. Zwischen Aufschieben und Tun, zwischen Faulheit und Freiheit liegt das leise Feld der Selbstbestimmung. Ein Blick darauf, wie alltägliche Entscheidungen unser Leben formen – und warum selbst das Nicht-Entscheiden eine Entscheidung ist.

Nina Hagen sang im Song TV-Glotzer den vielsagenden Satz:

„Ich kann mich gar nicht entscheiden, alles so schön bunt hier.“

Ich schiebe Entscheidungen auch schon mal vor mir her. Manchmal sage ich mir: Es wird sich irgendwann ergeben. Dem Wendekanzler Helmut Kohl sagte man nach, dass er Entscheidungen gern „aussitze“. Vor einer wichtigen Entscheidung schlafe ich am liebsten eine Nacht darüber. Aber wie ist es, wenn es darum geht, meinen Papierkram endlich in Ordner zu sortieren?

Viele werden es kennen: Es gibt scheinbar immer Wichtigeres. Zumindest redet man sich das ein. Der Papierkram kann warten – die Verabredung am Abend ist mir wichtiger. Da will ich mir lieber Gedanken machen, wie ich mich darauf vorbereite. Und außerdem, eine kleine Runde Zocken am Handy schadet sicher nicht.

Jetzt habe ich mich entschieden – fürs Zocken und dafür, mich auf den Abend zu freuen. Dabei kommt mir der Gedanke, dass ich entschieden habe. Und gleich folgt die Interpretation: Ich bin faul. Nein – ich habe entschieden, bis zu meiner Verabredung faul zu sein.
Aber halt – da kommen noch weitere Entscheidungen: Was ziehe ich an? Wie viel Geld nehme ich mit? Was habe ich versprochen, mitzubringen? Und selbst beim Zocken treffe ich fortwährend Entscheidungen: Spiele ich so oder anders, nehme ich diese Gelegenheit oder warte ich lieber?

Mein ganzer Tag besteht aus Entscheidungen, die ich kaum bewusst wahrnehme. Ich entscheide mich, Aufmerksamkeit zu schenken – oder auch nicht. Fast allem, was ich tue oder lasse, liegt eine Entscheidung zugrunde, bewusst oder unbewusst. Und wichtig: Auch wenn ich mich gegen etwas entscheide, entscheide ich mich für etwas anderes, das mir vielleicht gar nicht bewusst ist.
Damit bin ich bei der Achtsamkeit. Dieses oft überstrapazierte Wort beschreibt unter anderem, dass ich auf meine Entscheidungen bewusster achte.


Die unsichtbare Kunst, zu wählen

Bis hierhin wird deutlich: Entscheidungen strukturieren unser Leben, selbst dort, wo wir sie gar nicht als solche erkennen. Zwischen Aufschieben und Tun, zwischen Faulheit und Freiheit liegt ein leises, oft unbeachtetes Feld – das der Selbstbestimmung.

Wir entscheiden – und doch entscheidet auch etwas in uns. Oft ist es nicht der klare Wille, sondern eine Mischung aus Gewohnheit, Emotion und unbewusstem Kalkül.

Psychologisch gesehen sind Aufschub und Entscheidungsmüdigkeit selten Ausdruck von Trägheit. Sie entstehen, wenn wir uns überfordert fühlen, wenn zu viele Optionen offenstehen oder wenn wir das Ergebnis nicht kontrollieren können. „Ich entscheide später“ bedeutet dann häufig: Ich schütze mich vor innerer Spannung.

Und tatsächlich – viele Entscheidungen brauchen Zeit. „Eine Nacht darüber schlafen“ ist kein Sprichwort aus Bequemlichkeit, sondern Ausdruck einer tiefen Weisheit: Unser Gehirn arbeitet weiter, auch wenn wir scheinbar pausieren. So gesehen ist Aufschieben kein Fehler, sondern Teil des Entscheidungsprozesses selbst.


Freiheit – und ihre Zumutungen

Philosophisch erinnert uns jede Wahl an die Zumutung der Freiheit. Jean-Paul Sartre schrieb:

„Der Mensch ist zur Freiheit verurteilt.“

Er meinte damit, dass wir gar nicht nicht entscheiden können – selbst das Nicht-Handeln ist eine Entscheidung.
Auch die Stoiker sahen das ähnlich: Wir können nicht alles beeinflussen, aber wir können wählen, wie wir uns zu den Dingen verhalten.

Damit wird Entscheidung zu mehr als einem äußeren Akt. Sie wird zu einer inneren Bewegung: Wie stehe ich zu dem, was geschieht?
Das Zögern, der Aufschub, das kleine „Ich mach’s später“ wird so zum Spiegel unserer Beziehung zu uns selbst. Bin ich mir gerade nah? Bin ich mir klar darüber, was mir wichtig ist? Oder lenke ich mich nur ab?


Entscheidungen in einer Welt der Überreizung

Unsere Zeit macht es nicht leichter. Noch nie gab es so viele Wahlmöglichkeiten – und so viele Instanzen, die für uns entscheiden: Algorithmen, Apps, Empfehlungssysteme.
Was früher Erfahrung oder Intuition war, übernehmen heute Programme. Sie nehmen uns Arbeit ab – und zugleich Verantwortung.

Der Nachhaltigkeitsforscher Ingolfur Blühdorn beschreibt in seinem Buch Unhaltbarkeit, dass wir zunehmend Verantwortung an Systeme abgeben, um der Zumutung der Freiheit zu entgehen. Je komplexer die Welt wird, desto größer wird das Bedürfnis nach Entlastung – und desto weniger trainieren wir den inneren Muskel der Selbstbestimmung.

Wenn ich also den Papierkram vor mir herschiebe, ist das nicht nur persönliche Bequemlichkeit. Es ist auch ein Symptom einer Kultur, die Entscheidungen delegiert – an Maschinen, an Strukturen, an „später“.
Doch genau darin liegt eine stille Einladung: den kleinen Entscheidungen wieder Bedeutung zu geben.


Bewusst entscheiden – heißt, sich selbst begegnen

Achtsamkeit bedeutet nicht, alles perfekt zu kontrollieren. Sie bedeutet, wahrzunehmen, was gerade geschieht – bevor der Automatismus übernimmt.
Bewusst zu entscheiden heißt, sich zu spüren, bevor man reagiert.

Wer achtsam entscheidet, fragt nicht zuerst: Was ist richtig?, sondern: Was ist jetzt stimmig?
Vielleicht ist das die einfachste Form von Lebenskunst: zu merken, dass jeder Moment Wahlmöglichkeiten enthält – und dass jede Entscheidung, so klein sie auch scheint, ein Stück Identität formt.



Fazit

Entscheidungen sind keine Unterbrechungen des Lebensflusses.
Sie sind der Lebensfluss.

Und wer achtsam hinsieht, erkennt: Auch das Aufschieben ist eine Form der Entscheidung – vielleicht nicht immer die schlechteste, solange sie bewusst geschieht.